Es läuft was mächtig schief in unserer Sexualität

Eine 17-jährige Frau erzählte mir davon, dass sie mehrmals täglich von Männern aller Altersklassen belästigt werde. Sei dies, wenn sie mit einer Freundin auf einer Parkbank sitze, in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder auf dem Weg zur Toilette in einer Bar. Sie habe oft Angst. Und nein, die junge Frau läuft nicht aufreizend herum! Im Gegenteil. Sie kleidet sich eher unauffällig, sich schützend. Die Anmerkung bezüglich ihrer Kleidung mache ich nur, weil oft zu hören ist, dass junge Frauen zu provokativ herumlaufen würden. Selbstverständlich rechtfertigt auch ein kurzer Jupe nie ein übergriffiges Verhalten!

 

Die Erzählungen der jungen Frau rufen Erinnerungen in mir wach und auch die Mutter der jungen Frau erinnert sich an viele unangenehme Situationen. An Partys erlebte ich mehrfach, wie sich Männer auf der Tanzfläche an mich pressten, mir beim Vorgehen zwischen die Beine fassten oder bei einer Arbeitsstelle in einem Restaurant regelmässig versuchten, mir auf den Hintern zu tätscheln. Ich war damals 16! Und die Männer Mitte 50 und älter. Nicht immer gelang es mir, mich zur Wehr zu setzen. Leider! Darauf hatte mich niemand vorbereitet. Es war sogar eher so, dass ich aufgrund meiner Erziehung, grosse Mühe hatte, für mich einzustehen. Ab und zu gab es dann aber doch die Situation, dass mein Reptilienhirn mit seinen Reflexen hilfreich war und der übergriffige Mann meine Hand oder auch mal meine Faust im Gesicht hatte.

 

Das Gespräch mit der jungen Frau löst eine Trauer in mir aus und zeigt mir erneut auf, dass in unserer Sexualität was mächtig schief läuft.

 

Grenzen setzen und sexuelles Selbstbewusstsein aufbauen

Für mich habe ich herausgefunden, dass die Übergrifft damit zu tun haben, wie ich in der Lage bin, Grenzen zu setzen. Und wie übe ich mich darin? Indem ich mich aktiv und ganz bewusst mit meiner Sexualität auseinandersetze. Indem ich ein sexuelles Selbstbewusstsein und Integrität entwickle und täglich stärke. Ich will es nicht mehr mit mir geschehen lassen oder mich als Opfer fühlen. Nein! Heute lebe ich eine selbstbestimmte Sexualität. Mein Körper gehört mir und ich entscheide, wer ihn anfassen darf und auch wie er angefasst werden soll.

 

Auch entscheide ich, wer mir wie nahe kommt, z.B. im öffentlichen Raum. Ich nehme meinen energetischen Raum bewusst wahr und setze die Grenzen. Kommt mir jemand trotzdem zu nahe, entscheide ich, ob ich meinen Fokus auf meinen Raum lege, um diesen zu stärken, oder ob ich einige Schritte weg mache. Nicht, weil ich flüchte, sondern weil ich mich für mich und meinen Raum entscheide. Das ist ein entscheidender Unterschied! Flüchte ich vor etwas oder tue ich etwas für mich und weil es mir wichtig ist. Ich verschaffe mir den Raum, den ich brauche.

 

Grosses Leid vs. Sehnsucht nach Liebe

Dank meiner Arbeit komme ich mit vielen Menschen in Kontakt, die mir ihre Geschichte erzählen und heute ist mir sehr bewusst, dass in unserer Sexualität viel Leid steckt. Wir alle fügen uns selbst und auch gegenseitig grosses Leid zu.

Die heutige Sexualität ist laut, schrill und sensationsgeil. Ich nenne das Performancesex. So wird er oft in den Medien (TV-Shows, Insta uvm.) und in vielen Pornos gezeigt. Ihre eigentliche Aufgabe kann die Sexualität damit nicht mehr erfüllen und weil sie dies nicht mehr tun kann, sind sehr, sehr viele Menschen mit einer grossen Leere im Leben unterwegs. Diese wird versucht, mit Konsum, grossen und schnellen Autos, Süchten, Karrierestreben und dem Drang nach viel Geld zu kompensieren. Du spürst oder weisst vermutlich, dass das nicht funktioniert.

 

Das tiefe, tiefe Urbedürfnis, welches ALLE Menschen in sich tragen, ist das Gefühl, verbunden zu sein und geliebt zu werden. Wahrhaftige, authentische Sexualität, die eine tiefe Begegnung zwischen zwei Menschen erlaubt, ist die Quelle, die diese Sehnsucht erfüllen kann. Ich nenne das Liebessex.

Das Problem ist, dass wir verlernt haben, eine tiefe Begegnung zuzulassen. Wir sind Gefangene von unseren Rollen, Scheinpersönlichkeit und unserer Angst, verletzt zu werden. Viele Menschen haben wenig Kontakt zu ihren Gefühlen und auch wenig liebevollen Kontakt zu ihrem Körper. Das sind aber zwei wichtige Puzzleteile für Liebessex.

 

Vom Performancesex zum Liebessex

Performancesex führt dazu, dass viele Männer sehr sex- und liebeshungrig im Alltag unterwegs sind und es dann zu übergriffigem Verhalten (inkl. Blicke) kommt. Eine Frau, die ihre Grenzen noch nicht klar setzen kann und auch in ihrem sexuellen Selbstbewusstsein noch nicht gestärkt ist (wird in unserer Gesellschaft nicht gefördert), bekommt diesen männlichen Hunger ungefiltert ab und das kann sich sehr bedrohlich anfühlen. Dies kann sich dann in einer grossen Ablehnung gegenüber Sexualität äussern und in Form von Lustlosigkeit zum Vorschein kommen. Ein weiterer Effekt ist, dass sich Frauen selbst zurücknehmen und ihre lustvolle Frau nicht leben, weil sie die männliche Energie auf keinen Fall stärken wollen. Und dies hat nichts damit zu tun, dass viele junge Frauen "aufreizend" herumlaufen. Sie alle sind in ihrem Inneren verunsichert und in ihrer Sexualität 0,0 gefestigt.

 

Gleichzeitig ist es so, dass ich mehrere Männer bei mir in der Praxis habe, die grosse Mühe damit haben, ihre Sehnsucht nach Sexualität zuzulassen. Sie verurteilen die männliche Sexualität, distanzieren sich davon. Sie fühlen sich mit ihrem Wunsch nach Sexualität übergriffig. Oft haben sie auch Mühe mit der Vorstellung, in eine Frau einzudringen oder die Initiative zu Sex zu ergreifen. Dies kann in Form von Lustlosigkeit und auch Erektionsproblemen zum Vorschein kommen.

 

Eine Abkehr von der Sexualität ist nicht die Lösung. Denn damit schneiden sich die Menschen von ihrer Lebensenergie ab. In der Sexualität steckt ganz viel Lebensenergie. Ich arbeite mit meinen Klient:innen so, dass sie zuerst in sich klar sind bezüglich ihrer Sexualität, ein sexuelles Selbstbewusstsein und auch Integrität aufbauen und dann mit dieser Klarheit in Kontakt treten mit anderen Menschen. Wenn dann zwei Menschen aufeinandertreffen, die sich bewusst sind bezüglich ihrer Sexualität und auch bezüglich ihrem Liebesmangel (weiter unten dazu mehr), dann sind die Voraussetzungen für Liebessex sehr gut. Und: Liebessex ist wichtig für uns Menschen!

 

Das braucht es für Liebessex

  • Ehrlichkeit sich gegenüber und dem Partner/der Partnerin gegenüber (Liebesdienste und Schauspielerei sind nicht nachhaltig)
  • Präsenz, d.h. die Fähigkeit im Hier und Jetzt zu sein
  • Erwartungsfreiheit und Ziellosigkeit (alles darf, nichts muss, inkl. schönem Sex ohne Orgasmus)
  • Vertrauen und Bereitschaft, sich zu öffnen und sich verletzlich zu zeigen
  • Sexuelles Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, seine Bedürfnisse mitzuteilen
  • Loslassen von gesellschaftlichen Vorgaben
  • Offenheit für stetige WeiterENTwicklung
  • Bewusstsein für die eigenen Themen (seelische Wunden) und Bereitschaft, daran zu arbeiten (alleine und als Paar)

Der letzte Punkt bedeutet, dass sich Menschen zwingend mit den psychischen Wunden aus ihrer Kindheit auseinandersetzen müssen (Arbeit mit dem Inneren Kind). Denn da kommt dieser Mangel vom Gefühl "geliebt zu sein" her. ALLE Menschen haben diese Wunden. Selbst, wenn die Kindheit rückblickend als perfekt erscheint und die Eltern sehr liebevoll waren.

 

Diese Wunden sind unbewusst in jeder Beziehung und Sexualität mit dabei und treiben ihr Unwesen. Sie nähren unsere Erwartungen an den Partner/die Partnerin. Unsere Lieblingsmenschen sollen unsere Wunden heilen, indem sie Liebesdienste für uns tun und sich möglichst genau so verhalten, wie wir uns das vorstellen. Aber ... unsere Lieblingsmenschen sind nicht dafür verantwortlich, diesen Mangel auszumerzen. Wir selbst sind dafür verantwortlich. Wie schon oben erwähnt, durch Arbeit mit unserem Inneren Kind.

 

Wenn sich alle Menschen um ihr Inneres Kind kümmern würden, hätten wir liebevollere Beziehungen, nachhaltig nährenden Sex und dadurch massiv weniger Übergriffe, Krieg und sonstige schreckliche Ereignisse aus unserem Planten. Davon bin ich überzeugt!

 

Ein riesiges Thema! Fortsetzung folgt ...

 

Herzlich, Sandra